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#Pluralismus

Affektive Polarisierung untergräbt unser demokratisches System – was tun?

Che Wagner, Ivo Scherrer

11. August 2022

Affektive Polarisierung untergräbt unser demokratisches System – was tun?

Das kollektive Sicherheitsgefühlt der Schweizer:innen ist erschüttert und die wichtigste Garantie für Stabilität bedroht. Wir müssen wieder bewusst in unsere demokratische Kultur investieren.

Dieser Artikel wurde erstmals in französischer Sprache als Gastbeitrag in Le Temps am 6. August 2022 in der Print- und Onlineversion (Abo) publiziert.

 


 

Die Coronapandemie, die Klimakrise und der russische Angriff auf die Ukraine absorbieren die Aufmerksamkeit von Schweizerinnen und Schweizern und erschüttern unser kollektives Sicherheitsgefühl. In der krisengesteuerten «Notfall-Demokratie» bedroht die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft die wichtigste Garantie für Stabilität und kollektive Handlungsfähigkeit der Schweiz: unsere aktiv gelebte, demokratische Kultur. Wir müssen wieder bewusst in unsere Demokratie investieren. Jeder von uns hat seinen Teil beizutragen.

Demokratien sind fragiler als wir meinen. In seinem Buch «Das grosse Experiment» stellt der deutsch-amerikanischen Politologe Yascha Mounk fest, dass Demokratien Gefahr laufen, an den zentrifugalen Kräften rivalisierender Gruppen zu zerbrechen. Sobald die Schreihälse und Ideologen auf allen Seiten den Ton angeben, finden moderate Kräfte in diesem Umfeld kaum noch Gehör. Und politische Kompromisse im Interesse der Allgemeinheit haben kaum mehr eine Chance. Der amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt beschreibt, wie die Fragmentierung über die Politik hinaus in allen gesellschaftlichen Institutionen weiter wuchert: in Medien, Wissenschaft und Behörden. Um den inneren Zerfall der USA zu beschreiben, zieht Haidt die Parabel des Turmbaus zu Babel herbei, in der die Menschen in Zwist zerfallen, nachdem Gott ihre Sprache verwirrt. In der Folge sind sie nicht mehr in der Lage, den Turm weiterzubauen. In Haidts Übertragung auf die heutigen USA heisst das: Deuten verschiedene Gruppen die Welt so unterschiedlich, dass sie sich nicht mehr verständigen können, kann sich eine Demokratie nicht mehr weiterentwickeln. Ohne Dialog, ohne gegenseitigen Respekt, ohne Bekenntnis zu gemeinsamer Wahrheitssuche und politischer Machtteilung zerfallen Behörden, Parteien und Medien – und mit ihr die Demokratie.

Globaler Druck auf Demokratien

Demokratien drohen nicht nur innenpolitischen Gefahren zum Opfer zu fallen. Auch international sind sie seit Jahrzehnten unter Druck. Autokraten bekämpfen die Freiheit, wo sie nur können. Denn funktionsfähige Demokratien und offene Gesellschaften sind für sie eine Gefahr. Individuelle Freiheiten und das Recht auf Mitbestimmung bedrohen ihre Macht. Die Visibilität von demokratischer Kultur und Praxis zeigt Menschen unter autoritärer Herrschaft weltweit, dass es Alternativen gibt – gerade im Zeitalter von Social Media. Autokraten haben deshalb ein handfestes Interesse daran, freie Staaten zu destabilisieren, Zwietracht zu sähen und demokratische Kulturen zu sabotieren.

Auch in der Schweiz ist die Demokratie fragiler als viele denken. Die zunehmende Polarisierung droht unüberbrückbare Gräben zu schaffen und so die Kompromiss-Kultur der Schweiz unterlaufen. Hierzulande hegen im internationalen Vergleich besonders viele Menschen negative Gefühle gegenüber Menschen mit anderen Ansichten. Für eine konsensorientierte Demokratie ist diese Form der sogenannten affektiven Polarisierung fatal: sie hält uns davon ab, miteinander zu sprechen und führt dazu, dass unsere Gruppenzugehörigkeiten anstelle von sachpolitischen Überlegungen entscheiden, wie wir abstimmen und wen wir wählen. Je stärker wir polarisiert sind, desto schwieriger wird es, konstruktive Lösungen zu komplexen Herausforderungen zu finden.

In den letzten 20 Jahren hat die Fähigkeit der Schweiz, gemeinsam anzupacken, stark abgenommen. Das zeigt eine Untersuchung der Forschungsstelle gfs.bern. Wir überlassen wichtige Grossbaustellen sich selbst und haben es kaum geschafft, grundlegende Weichen für unsere Beziehungen zur EU, für die Klimapolitik oder die Weiterentwicklung der Sozial- und Altersvorsorge zu stellen. Breite Kompromisse finden weniger Mehrheiten als früher. Wir sind kaum noch in der Lage, gemeinsam in langfristige Vorhaben zu investieren und Kompromisse zu finden. Erst wenn die Alarmglocken läuten und der Schaden nicht mehr zu leugnen ist, gehen wir in einen Krisenmodus über, in dem wir nur noch reagieren können. Diese «Notfall-Demokratie» hat einen grossen Preis: Es fehlt mehr und mehr die Zeit, gemeinsam und in Ruhe abzuwägen, wie wir bevorstehenden Krisen entgegentreten möchten.

Im Zeitalter der Krisen dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, unser demokratisches System und die Kultur, die dem zugrunde liegt, seien naturgegeben. Der «Notfallsmodus» und die Polarisierung nagen an den Grundfesten unseres Systems. Wie können wir aus dieser Situation ausbrechen?

Demokratie ist ein Verb

Wir müssen Demokratie wieder leben. Und zwar jeden Tag. Demokratie ist mehr als ein abstraktes Set von Normen, Prozessen und Institutionen. Demokratie ist ein Bekenntnis, das wir jeden Tag ablegen. Eine Kombination von Aktivität, die wir jeden Tag aufs Neue in Angriff nehmen. Demokratie ist ein Verb.

Aber wenn Demokratie ein Verb sein soll – ich demokratiere, du demokratierst, etc. – was beinhaltet das? Wir alle sind jeden Tag dazu aufgefordert gefragt, uns mit der Welt auseinanderzusetzen und auf unsere Mitmenschen zuzugehen. Uns gegenseitig zuzuhören, zu diskutieren, Unterschiede zu akzeptieren und trotz gegenseitiger Antipathie und Meinungsverschiedenheit gemeinsame Entscheide zu treffen. Dafür brauchen wir dringend mehr Raum für Reflexion, Dialog und Diskurs. Eine Demokratie braucht Infrastrukturen, die es ermöglichen, dass Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen aufeinander zugehen und konstruktiv miteinander über die gemeinsame Zukunft streiten zu können. Und zwar alle Menschen, die in der Schweiz leben und von demokratischen Entscheidungen betroffen sind.

Mit dem neuen Think + Do Tank «Pro Futuris» wollen wir neue demokratische Infrastrukturen schaffen und haben das nationale Dialogformat «Lasst uns reden» ins Leben gerufen. Auf der Plattform registriert man seine Meinung zu 10 verschiedenen aktuellen Themen – teilnehmen können alle Menschen, die in der Schweiz leben. Der Algorithmus sucht danach aus der Datenbank ein Gegenüber, das garantiert nicht die gleiche Meinung hat. Dann setzt man sich mit der Person zu einem respektvollen Gespräch unter vier Augen an den Tisch. Im Gespräch sehen die Teilnehmenden nicht nur die Welt des Anderen, aber entdecken auch die vielen Gemeinsamkeiten, die das Gesprächsgegenüber vermenschlicht und personifiziert. Wer einander kennenlernt, der kann nicht mehr pauschalisieren und das wirkt direkt der affektiven Polarisierung entgegen.

Wir alle sind also dazu aufgefordert und für die Allgemeinheit einzusetzen. Uns füreinander und miteinander zu engagieren. Denn als atomisierte Individualgesellschaft schaffen wir es nicht, die kollektive Intelligenz zur Blüte zu bringen, die wir als Gesellschaft brauchen, um die grossen Krisen unseres Jahrhunderts zu bewältigen. Ansonsten droht die Erosion unserer Demokratie.