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#Teilhabe

Die autokratische Bedrohung

Ivo Scherrer, Che Wagner

22. April 2022

Serie: Die Schweiz im neuen Systemkampf

Teil 1

Ob wir es wollen oder nicht: Wir befinden uns bereits mitten im neuen globalen Systemkampf zwischen Autokratien und Demokratien.

In Teil 1 dieser Reihe gehen wir dem globalen Vormarsch der Autokraten auf die Spur. In Teil 2 fragen wir uns, wie die Schweiz reagieren kann.

 


 

Seit 20 Jahren sind Autokraten global auf dem Vormarsch. Laut den Daten des Amerikanischen Demokratie-Instituts Freedom House leben heute noch knapp 20 Prozent der Menschheit in freien Staaten. 2005 waren es noch 46 Prozent (Freedom House, 2021). Seit der Jahrtausendwende haben zahlreiche vermeintlich starke Männer die Macht ergriffen. 

Autokraten im Vormarsch

Putin in Russland, Xi in China, Maduro in Venezuela, Lukaschenko in Belarus, Erdogan in der Türkei, Modi in Indien, Bolsonaro in Brasilien und Orban in Ungarn – sie alle versuchen, mit Gewalt ihre Macht zu festigen. Sie schalten Legislative und Judikative aus, sorgen für mundtote Medien, stigmatisieren ethnische und sexuelle Minderheiten, inszenieren sich als Helden, träumen von neuen Imperien und bedrohen ihre Nachbarn (Rachman, 2022). Der russische Angriff auf die Ukraine ist die brutale Zuspitzung des Aufstiegs autoritärer Herrscher.

Doch auch in Ländern des Demokratie-erprobten Westens sind die autokratischen Tendenzen der letzten Jahre unübersehbar. Autoritäre Kräfte wie die FPÖ in Österreich, die LEGA in Italien und Trumps Republikaner in den USA haben es an die Macht geschafft. Sie sägen an wichtigen demokratischen Grundsätzen, versuchen die Gewaltenteilung auszuhebeln, machen Stimmung gegen Minderheiten und hetzen gegen ihre Gegner:innen (Freedom House, 2021). In Frankreich scheint es momentan gar möglich, dass die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen dem aktuellen Präsidenten Emmanuel Macron übermorgen Sonntag die Wiederwahl streitig machen könnte (Stand 22. April).

Grafik Autokratie Freedomhouse

Wie autokratische Akteure die Demokratie unterminieren. (Freedomhouse, 2021)

Ein neuer Systemkampf 

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges ging die Hoffnung um, die Zeit der geopolitischen Auseinandersetzungen sei zu Ende, Demokratie und Marktwirtschaft würden sich fortan von alleine durchsetzen. Das Gegenteil ist der Fall: Demokratien sind fragiler geworden und Autokraten bekämpfen die Freiheit, wo sie nur können. 30 Jahre nach Ende des kalten Kriegs ist die Welt in einem neuen Systemkampf angelangt.

Denn funktionsfähige Demokratien und offene Gesellschaften sind eine Gefahr für die Autokraten dieser Welt. Unsere Freiheit bedroht ihre Macht. Sie zeigt Menschen unter autoritärer Herrschaft, dass es Alternativen gibt (Applebaum, 2021). Deswegen haben Autokraten ein vitales Interesse daran, freie Staaten zu destabilisieren.

Der Einfluss von Autokraten reicht bis weit in bestehende Demokratien: Russland beispielsweise hat rechtsextreme europäische Parteien über Jahre mit Know-How und Finanzen unterstützt. Die französische Partei «Rassemblement National» von Le Pen zahlt noch heute ein russisches Darlehen von 2015 ab (Bidder, 2017, NewLines, 2022; Kauffmann 2022). Autokraten versuchen auch aktiv den Diskurs zu vergiften und so Wahlergebnisse in ihrem Interesse zu beeinflussen (vgl. Guardian, 2022). Sie hetzen dazu etwa mit Zielgruppen-genauen Messaging verschiedene Teile der Bevölkerung gegeneinander auf (Ribiero et al, 2019), um so die Polarisierung anzuheizen.

Autokratien schrecken auch nicht davor zurück, auf dem Territorium demokratischer Staaten Gewalt anzuwenden und Dissident:innen und Oppositionelle ausserhalb ihrer Grenzen zu verfolgen. Alleine seit 2014 hat Freedom House (2021) mehrere hundert Fälle dokumentiert, in denen autoritäre Staaten – allen voran China, die Türkei, Russland, Saudi Arabien, Iran und Ruanda – Angehörige der eigenen Diaspora in anderen Ländern physisch bedroht und in einzelnen Fällen umgebracht haben. 

Auch wenn die verschiedenen Autokraten nicht denselben Ideologien anhängen, eint sie doch der Kampf gegen demokratische Kräfte. Sie unterstützen sich gegenseitig – diplomatisch, militärisch und finanziell (Applebaum 2021). So ist es auch nicht verwunderlich, dass die meisten autokratische Staaten geeint auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine blicken: Nordkorea, China, Myanmar, Iran, Syrien, Belarus, Kuba und Venezuela stehen auf Russlands Seite und haben den Angriff nicht verurteilt (Economist, 2022). 

Reaktion Russland Angriff Economist

Die Reaktion von Regierungen auf den russischen Angriff auf die Ukraine. (Economist 2022)

Die Angriffe auf Demokratien sind keine Einzelfälle sondern haben System. Die erstarkte Allianz der Autokraten ist eine Gefahr für alle, die an Kooperation, Dialog und Menschenwürde glauben.

Die Systemfrage ist eine Kulturfrage

In der Auseinandersetzung zwischen Demokratien und Autokratien geht es nicht nur um den Wettbewerb zwischen zwei Formen politischer Organisation. Es geht um weit mehr als um Wahlen und Gewaltentrennung. Es geht um eine Art des Lebens.

Um ihre Macht zu festigen, streben Autokraten danach, offene Debatten und die freie Meinungsbildung zu unterbinden. Sie versuchen, selbstständiges Denken im Keim zu ersticken, gängeln Wissenschaft und Medien, verbieten Vereine und diffamieren Andersdenkende (vgl. etwa Synder, 2016). Ist der öffentliche Raum erstmal trockengelegt, steht jeder Einzelne der Macht alleine und ungeschützt gegenüber.

Widersprüche akzeptieren Autokraten nicht und Widerstand knüppeln sie nieder. Der einzelne Mensch kennt weder Rechte noch Würde. Autokraten pflegen dabei eine imaginäre Beziehung zum Volk, sie stilisieren sich zur Reinkarnation der Gemeinschaft. Das Volk wiederum wird zum Statisten degradiert, zu einer «theatralischen Fiktion», wie Umberto Eco es 1995 nannte. 

Zur Legitimierung ihrer Macht beschwören sie eine andauernde Krise – eine vermeintliche Bedrohung durch düstere Mächte im In- und Ausland – und sähen so Misstrauen, Angst und Terror (vgl. etwa Arendt, 1951). Die vermeintlich dauernd lauernde Gefahr dient auch dazu, ein Narrativ der Alternativlosigkeit zu propagieren: «Ich bin der Einzige, der Euch retten kann.» So verliert jede Gesellschaft das Gefühl, die eigene Zukunft selbst in die Hand nehmen zu können (Synder, 2018). In autokratischen Ländern macht sich oft eine sado-masochistische Kultur breit, die um die Ausübung von Macht und Gewalt kreist. In einem autokratischen Machtapparat nehmen alle Befehle und Tritte von oben entgegen und knüppeln nach unten weiter (Fromm, 1941).

In allen Autokratien zahlt die Zivilbevölkerung den höchsten Preis. Sie wird von ihren Machthabern politisch übergangen, wirtschaftlich ausgebootet und bei Widerstand niedergetrampelt. Im Ernstfall muss sie als Kanonenfutter für die imperialen Träume herhalten und vor den Schrecken des Krieges flüchten. 

Das beste Mittel gegen autoritäre Gewalt liegt in der Stärkung der demokratischen Kultur. In Demokratien haben weder ungeteilte Macht noch autoritäre Deutungsansprüche Platz. Demokratien leben von Vielfalt und Offenheit. Vom Wunsch, gemeinsam voran zu kommen. Vom fortwährenden friedlichen Streit um die besten Antworten auf die drängendsten Fragen. Demokratien leben vom Anspruch, allen eine Stimme zu geben, und sind somit inhärent lebendig und subversiv.

 


 

Dranbleiben: Dies ist Teil 1 einer zweiteiligen Reihe. In Teil 2 fragen wir uns: Was bedeutet das Erstarken der Autokraten für die Schweiz?

 


 

Titelbild: Protest in Minsk (Belarus), 30.08.2020. Quelle: Unsplash/Andrew Keymaster