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#Teilhabe

Was tun?

Ivo Scherrer, Che Wagner

22. April 2022

Serie: Die Schweiz im neuen Systemkampf

Teil 2

Autokraten befinden sich global im Aufwind und bedrohen die Demokratie. Was bedeutet dies für die Schweiz? Welche Rolle kann und soll sie im neuen Systemkampf einnehmen?

In Teil 1 dieser Reihe sind wir dem globalen Vormarsch der Autokraten auf die Spur gegangen. In Teil 2 fragen wir uns, wie die Schweiz reagieren kann.

 


 

Die autoritären Angriffe auf die Demokratien dieser Welt sind auch eine Bedrohung für die Schweiz.  Gemäss Artikel 54 unserer Verfassung gehören die Wahrung von Demokratie, Frieden und Menschenrechten auf der gesamten Welt zu den aussenpolitischen Grundprinzipien der Schweiz. 

Wie können wir diese Prinzipien konkret verteidigen? Welche Verantwortung soll und kann die Schweiz im neuen Systemkampf zwischen demokratischen und autokratischen Systemen übernehmen? 

Im Moment dreht sich der öffentliche Diskurs stark um energie- und sicherheitspolitische Fragen. Als Antwort auf Russlands Angriffskrieg sind Schweizerische Energie-Sanktionen und die Debatte über die Beteiligung an einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur sinnvoll und richtig. 

Gleichzeitig drängt sich die Frage auf, in welchen Bereichen die Schweiz mittelfristig die grösste Hebelwirkung entfalten kann. Potentielle Wirkungskraft hat die Schweiz in der Rolle als globaler, sicherer Rückzugsort, als Finanz- und Rohstoffhandelsplatz sowie als eine der ältesten Demokratien der Welt.

Globale Verantwortung in der Schweiz wahrnehmen

Die Schweiz trägt als wohlhabende und global vernetzte Gesellschaft besondere Verantwortung, die Verletzlichen und Verfolgten zu unterstützen. Dieser Maxime folgend, sollten wir erstens Flüchtende so grosszügig wie möglich aufnehmen. Aus der Ukraine, wie auch aus allen anderen Ländern, aus welchen Menschen vor Gewalt und Unterdrückung fliehen. Flüchtende aus Syrien, Afghanistan oder dem Jemen benötigen genauso unseren Schutz wie Flüchtende aus der Ukraine. Zweitens könnte sich die Schweiz als Rückzugsgebiet für besonders exponierte Dissident:innen und Wissenschaftler:innen positionieren und zum Exil etwa für belarussische, chinesische, iranische oder russische Denker:innen werden. Denkbar wäre zum Beispiel die Gründung einer russischen Exil-Universität. Schon im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Schweiz zeitweilig eine liberale Oase für verfolgte Denker:innen. An dieser Tradition können wir anknüpfen.

Den Verletzlichsten können wir nur dann effektiv helfen, wenn wir nicht weiterhin indirekt deren Unterdrücker hofieren. Unser Finanz- und Rohstoffhandelsplatz darf nicht als Werkzeug für die Bereicherung und Kriegsfinanzierung von Autokraten dienen. Bekanntlicherweise laufen 80 Prozent des russischen Rohstoffhandels über die Schweiz. Verschiedene Recherchen, von Pandora Papers bis zu den Suisse Secrets haben hervorgebracht, dass in der Schweiz weiterhin Gelder gewaschen werden, die in anderen Ländern versteuert werden müssten. Die globalen Demokratien können wir nun dann effektiv unterstützen, wenn wir ihnen nicht gleichzeitig die Lebensgrundlagen entziehen. 

Der russische Angriff auf die Ukraine zeigt auch, dass Autokraten nicht davor zurückscheuen, unsere Abhängigkeit als Machtmittel einzusetzen. Wenn wir uns mittelfristig behaupten wollen, müssen wir unsere wirtschaftlichen Verknüpfen hinterfragen: Wollen wir grosse Firmen in den Besitz staatsnaher chinesischer Betriebe übergeben? Wollen wir weiterhin über 10 Milliarden Schweizer Franken pro Jahr für den Import fossiler Brennstoffe ausgeben (BfE, 2021) und damit die Kassen der autokratischen Herrscher von Venezuela, Russland, Saudi Arabien oder dem Iran füllen? Wenn wir den Kampf für die Demokratie ernst nehmen, müssen wir auch bereit sein, wirtschaftliche Kosten zu tragen.

Eigenes demokratisches System selbstkritisch verbessern 

Das Erstarken der Autokraten stellt uns nicht nur vor die Frage, welche Rolle die Schweiz global wahrnehmen soll. Wie alle anderen Demokratien sind wir zudem gefordert, unser demokratisches System zu verbessern. Denn eine lebendige Demokratie ist die beste Verteidigung gegen autoritäre Versuchungen. Auch in der Schweiz.

Wollen wir die Demokratie in der Schweiz verbessern, müssen wir dringend staatspolitische Reformen anpacken. Denn: Immer noch sind viele Menschen in der Schweiz von demokratischen Entscheiden vollständig ausgeschlossen. Und viele, die partizipieren könnten, tun dies nicht. Gleichzeitig droht die stärker werdende Polarisierung den konstruktiven, kontroversen Dialog zu vergiften (unsere Übersicht zur Polarisierung in der Schweiz finden Sie hier). Auch in der Schweiz müssen wir wieder lernen, gemeinsam handlungsfähig zu werden und Reformen anzupacken, die zu lange liegen geblieben sind (unsere Analyse zur Demokratie im Notfallmodus gibt es hier). 

Im Gegensatz zu anderen Demokratien haben wir in der Schweiz als eines der reichsten Länder der Welt nicht nur die dafür nötigen Ressourcen zur Verfügung. Wir können auch auf einen reichhaltigen demokratischen Erfahrungsschatz aufbauen. Wir sind in der Lage, neue demokratische Infrastrukturen in einem Kontext entwickeln, in dem aktive Mitbestimmung für viele Menschen bereits Alltag ist. 

Viele demokratische Innovationen sind denkbar: Bürger:innen-Panels, Partizipationsformate für den Einbezug marginalisierter Gruppen, lösungsorientierte Dialog-Formate oder die Entkoppelung des demokratischen Stimmrechts vom Schweizer Pass.

Wollen wir unsere eigene Demokratie ernsthaft weiterentwickeln, werden diese Veränderungen zu politischen Grossbaustellen. Denn:  Schaffen wir neue Beteiligungsformen und laden neue Beteiligte dazu ein, geht es immer auch um die Neuverteilung von Macht. Die demokratische Mitsprache mit neuen Formaten für Dialog und Deliberation zu verbessern und die Schweizer Wahlbevölkerung zu vergrössen, ist ein Generationenvorhaben. Aber es tut not. Denn nur so können wir sicherstellen, dass wir uns in Zukunft gemeinsam auf die Suche nach den besten Antworten auf unsere gemeinsamen Problem begeben. 

Mit neuen Formen der demokratischen Mitsprache stärken wir die demokratische Kultur, geben unserer Demokratie Raum zum Atmen und beugen autoritären Versuchungen vor. Die Schweiz ist in einer aussergewöhnlich privilegierten Lage, neue Formen der Demokratie ausprobieren zu können. Diese sollten wir nicht nur als «nice-to-have» Projekte verfolgen sondern als unsere Verantwortung ernst nehmen.

Aktiv werden

Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist der Systemkampf zwischen Demokratien und Autokratien für alle sichtbar geworden. Wir können ihm nicht aus dem Weg gehen. Die Schweiz ist mittendrin. Wollen wir, dass Demokratien auch im 21. Jahrhundert bestehen können, ist unser aktiver Beitrag gefragt. Es reicht nicht mehr, nur im Notfall zu reagieren. Wir müssen in die Demokratie investieren und unsere globale Verantwortung wahrnehmen. Die Demokratie sollte es uns wert sein.

 


 

Mehr erfahren: Dies ist Teil 2 einer zweiteiligen Reihe. In Teil 1 finden Sie die Hintergründe zur autokratischen Bedrohung.