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#Pluralismus

Einblick in eine fremde Lebenswelt

14. September 2022

Einblick in eine fremde Lebenswelt

Sie arbeitet bei einer Nonprofit-Organisation, er besitzt drei Hotels. Im Rahmen des Projekts «Lasst und reden», haben sich zwei Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zu einem Gespräch getroffen.

Rafaela Estermann hat sowohl privat als auch beruflich mit verschiedenen Ansichten und Lebensweisen zu tun. «Mein Partner ist politisch eher rechts, ich bin mehr Mitte-links», sagt die 28-Jährige. Die Religionswissenschaftlerin arbeitet als Redaktionsleiterin für die Plattform religion.ch, welche den Dialog zwischen Angehörigen verschiedener Religionen fördert. «Mich interessiert, wieso Menschen, die in der gleichen Welt leben, diese ganz unterschiedlich wahrnehmen. Ich überlege mir oft, wieso wir so denken, wie wir denken.»

Deshalb fühlte sie sich sofort angesprochen, als sie in den Sozialen Medien von der Dialogreihe «Lasst und reden» von Pro Futuris las. Im Rahmen dieses Projekts führen Personen mit unterschiedlichen politischen Meinungen ein Gespräch und versuchen gegenseitig zu verstehen, wie die andere Person zu ihren Überzeugungen kommt. Die Gesprächspartner werden einander aufgrund von Fragebogen zugeteilt.

Eine neuartige Begegnung

Ende August trafen sich Rafaela Estermann und Daniel Waldvogel zu einem längeren Austausch in Zürich. Der 55-Jährige ist Unternehmer, besitzt in der Schweiz drei Hotels und hat schon diverse andere Projekte angerissen. Er reist sehr häufig in der ganzen Welt herum, zurzeit vor allem nach Afrika, wo er sich für die medizinische Hilfsorganisation medi-help.org engagiert. «So einem Menschen bin ich wirklich noch nie begegnet», staunt Estermann. «Er schiebt einfach so grosse Geldmengen herum, investiert mal hier 10 000 Franken, mal dort eine halbe Million, während wir bei unserer Nonprofitorganisation um jeden Franken Spendengelder froh sind.»

Respekt vor Unternehmertum

Im Gespräch sei es unter anderem um das Thema Migration gegangen, erzählt Waldvogel. Er selber befürworte eine gezielte Einwanderung. «Spezialisten, die in der Schweiz gebraucht werden, sollen für einige Jahre kommen dürfen, nachdem sie Deutsch gelernt haben.» Mit dem verdienten Geld könnten sie später in ihrem Herkunftsland ein eigenes Geschäft aufbauen. Das bringe beiden Seiten viel mehr als wenn unqualifizierte Menschen riskante Bootsfahrten über das Mittelmeer unternehmen und hier die Sozialwerke belasten, findet der Afrika-Kenner.

Diese Problematik sieht auch Estermann: Eine unbegrenzte Einwanderung sei nicht wünschenswert. Dennoch sei sie gespalten in der Migrationsfrage: «Ich habe Mitgefühl mit diesen Menschen ohne Perspektive.» Bei ihrem Gesprächspartner habe sie ein wenig die Haltung herausgespürt, dass jede Person für ihr eigenes Schicksal verantwortlich sei und ihre Situation selber anpacken müsse. Ein Stück weit kann sie dies verstehen: «Daniel hat sich seine Position und seine finanziellen Möglichkeiten ganz von selber erarbeitet. Er hat schon als ganz junger Mann sein erstes Geschäft gegründet.» Davor habe sie Respekt. Und auch sie würde sich oft etwas mehr Eigeninitiative vonseiten benachteiligter Menschen wünschen. Trotzdem gebe es zu bedenken, dass nicht alle die Voraussetzungen haben, um im Leben Grosses zu erreichen.

Der Staat als Bedrohung oder Beschützer

Erstaunt war Estermann auch darüber, dass Waldvogel den Staat generell infrage stellt. «Ich sehe, dass in Afrika und anderen Kontinenten viele Staaten korrupt sind. Doch in der Schweiz funktioniert es doch dank der Gewaltenteilung nicht so schlecht.» Waldvogel hat seine Meinung aufgrund persönlicher Erfahrungen gebildet: Er sei in der Schweiz Opfer geworden von staatlichem Machtmissbrauch und Korruption, erzählt der Unternehmer, der deswegen seinen Wohnsitz hierzulande aufgegeben hat. Gemeldet ist er in Thailand  und wenn er in die Schweiz kommt, etwa um seine beiden Kinder zu sehen, wohnt er in einem seiner Hotels. «Der Staat ist für mich eher eine Bedrohung und ein wucherndes Geschwür, während Rafaela ihn auch als schützend wahrnimmt», stellt er fest. Dafür habe er aber Verständnis: «Vor zehn Jahren habe ich auch noch anders gedacht.»

Daniel Waldvogel erzählte seiner Gesprächspartnerin auch vom Konzept der Privatstädte, bei der sich vermögende Menschen irgendwo auf der Welt ein Stück Land zum Wohnen kaufen und dort eigenverantwortlich leben. Während er die Idee überzeugend findet, ist sie skeptisch: «Das könnten sich ja nur vermögende Menschen leisten. Zudem bin ich nicht sicher, ob es funktionieren würde.»

Religion ist ihm suspekt

Nicht viel hält Waldvogel auch von Religionen: «In Afrika ist das vor allem ein Business. Privatkirchen kontrollieren die Massen und beuten sie finanziell aus.» Auch die katholische Kirche habe weltweit viel Schlimmes angerichtet. Bei diesem Thema sei er mit seiner Gesprächspartnerin nicht einig geworden. Dennoch anerkenne er ihre Position: «Rafaela bezeichnet sich selber als Agnostikerin. Doch sie sieht die Religionen als Anknüpfungspunkt, um kulturelle Brücken zu bauen.»

Sein Pragmatismus irritiert sie

Weiter habe er ihr viel von seinem Hilfsprojekt erzählt, das er selber mitaufgebaut hat und dem er jährlich eine halbe Million Franken zukommen lässt. Medi-Help beschafft lebenswichtige Medikamente, ermöglicht die Operation von Tumoren in der Gebärmutter sowie Abbrüche ungewollter Schwangerschaften und engagiert sich in der Geburtenkontrolle. Davon profitieren hauptsächlich Frauen. «In Afrika ist ein Menschenleben nicht so viel wert wie in Europa», erklärt Waldvogel. «Wir müssen Prioritäten setzen beim Geld ausgeben. Deshalb sind wir zum Schluss gekommen, dass es sinnvoller ist, eine fünffache Mutter zu retten als einen alleinstehenden Alkoholiker.» Für sein Gegenüber sei diese Denkweise wohl ungewohnt, ist er sich bewusst.

Trotz unterschiedlicher Positionen haben beide den Austausch als angenehm und interessant empfunden. «Es war ein netter Abend», resümiert Daniel Waldvogel. Und auch Rafaela Estermann hat die Begegnung als bereichernd erlebt: «Teilweise haben mich Daniels Ansichten irritiert. Doch der Einblick in eine mir fremde Lebenswelt war äusserst spannend.»