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gedenkblatt bundesverfassung 1874

#Neue Narrative

Erzählungen schaffen Wirklichkeit

Andreas Müller

20. Mai 2022

Erzählungen schaffen Wirklichkeit

Was für eine Zukunft wollen wir und wie landen wir dort? In der Schweizer Politik fehlten bisher Wille und Können, sich Zukunftsentwürfe auszudenken und den Weg dahin zu beschreiten.

Es wäre eine zentrale Aufgabe der Parteien, Szenarien für die Zukunft zu entwickeln und damit sich und ihren Wähler:innen Orientierung zu bieten. Parteien, die erfolgreich sein wollen, müssten ihre politischen Forderungen in glaubwürdigen, auch neuartigen Narrativen erzählen und eine Schweiz zeichnen, in der beispielsweise Klimaschutz oder Care-Arbeit ein zentraler Bestandteil sind. Doch das wagen die schweizerischen Parteien kaum.

Tief verankerte Selbstbilder und nicht-hinterfragte dominante Narrative führen dazu, dass in den Köpfen der Politiker:innen grössere Veränderungen oder gar ein Paradigmenwechsel unmöglich erscheinen. Ideen und Lösungsvorschläge, die konträr zu althergebrachten Narrativen stehen, werden so «undenkbar» und geraten ausser Reichweite. Oft hatten Wähler:innen in den letzten Jahren lediglich die Wahl zwischen einem mythischen, rückwärtsgewandten Geschichtsbild, verknüpft mit einem Gegenwartsbild, das Ängste schürt, oder einer kurzfristig orientierten Amtsinhaber:innen-Sachpolitik, die weder eine Geschichte erzählt noch ein Zukunftsbild transportiert.

Ein Beispiel ist der Abstimmungskampf zur Masseneinwanderungsinitiative von 2014, wo auch die Gegner vor allem das Narrativ vom Dichtestress aufnahmen. Neue und nach vorne gerichtete Erzählungen fehlen.

 

Warum brauchen politische Parteien Narrative?

Ein politisches Narrativ erfüllt den Zweck, politische Ziele und Werte der Gegenwart in eine Erzählung einzubinden, die eine Brücke schlägt von der Vergangenheit zu einer anzustrebenden Zukunft. Zum Beispiel ist der «American Dream» der Inbegriff für den Traum von wirtschaftlichem Erfolg bei Wahrung der persönlichen Freiheit.  Es ist mittlerweile gemeinhin anerkannt, dass Politik genauso sehr ein «Ort von Geschichten» und wie ein «Ort der Argumente» ist. Es sind dabei vor allem die Geschichten, die Narrative, die haften bleiben.

Darum ist es umso zentraler zu wissen, was solche Narrative kennzeichnet, welche Wirkung sie haben und was ihren Erfolg beeinflusst. Auch wenn oft gesagt wird, das Zeitalter der grossen ideologischen Erzählungen sei vorbei, werden die wichtigsten politischen Entscheide auf der Basis von (dominanten) Narrativen gefällt. Um an und mit Narrativen zu arbeiten, ist es wichtig, dass politische Parteien und Akteur:innen Narrative überhaupt als relevante Form des Denkens und Kommunizierens wahr- und ernstnehmen.

 

Nationale Mythen prägen die Zukunftsvorstellung

Wichtig ist dabei die zentrale Rolle anzuerkennen, die politische Mythen respektive nationale Narrative für die Politik spielen. Denn wie wir Geschichten über die Vergangenheit erzählen, prägt unsere Weltanschauungen und damit auch unsere Zukunftserwartungen. Sie engen so gleichzeitig den Zukunftshorizont ein. Ein politischer Mythos knüpft an einem dem breiten Publikum bekannten Stoff an und setzt diesen in Bezug zur Gegenwart. Er ist eine emotional aufgeladene Erzählung, die einen bestimmten roten Faden in die historische Wirklichkeit einwebt. In der Schweiz kann zweifelsohne der Fundus an Geschichten rund um Rütlischwur, Bundesbrief, Wilhelm Tell, Winkelried oder Marignano hierzu gerechnet werden. Solche politischen Mythen stiften ein Gemeinschaftsgefühl. 

In pluralistischen Gesellschaften spielt sich der Streit um die Geschichtsdeutung vor allem in der Politik und in den Medien ab. Narrative nutzen die Vergangenheit als Quelle, um gegenwärtige Frage- und Problemstellungen richtungspolitisch zu rahmen. So bekommt eine nationale Erzählung ihre zukunftsgewandte Perspektive: Erst dadurch kann zum Beispiel behauptet werden, dass etwas historisch Erreichtes gefährdet sei, gerettet oder wieder hergestellt werden müsse. Die angekündigte Volksinitiative zur Rettung der immerwährenden, bewaffneten und integralen Neutralität ist ein Beispiel für eine solche Argumentation.

 

Narrative verändern sich

Narrative sind nicht statisch. Bestehende Narrative können sich verändern oder verändert werden, dominante Narrative können an Wirkungsmacht verlieren oder ganz verschwinden und neue Narrative können an Bedeutung gewinnen. Denn welche Gründungsnarrative, Mythen, kollektiven Erfahrungen und historischen Ereignisse die heutigen politischen Werte prägen und wie sie dies tun, wird immer wieder neu diskutiert. 

Ein schönes Beispiel ist die wieder aufflammende Diskussion um den Neutralitätsbegriff respektive den Neutralitätsmythos. Das Verständnis des schweizerischen Identitätspfeilers «Neutralität» könnte sich im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg verändern. Es könnte beispielsweise ein neues Narrativ aufkommen, das eine Art «geistige Demokratieverteidigung» thematisiert, was wiederum Neutralitätsverständnis und -politik beeinflussen würde. Der Absatz in unserer Bundesverfassungs-Präambel über das «Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken», bekäme so eine neue, zentralere Bedeutung.  

Kurzum: Wer politische Veränderungen erreichen will, kommt nicht umhin, auch die Filter der historischen Wahrnehmung zu verändern. Diese wirken nicht nur auf das Bild der Vergangenheit ein, sondern auch darauf, welche Zukünfte «denkbar» werden. Ebenso gilt aber: Ein:e einzelne:r Akteur:in kann kein Narrativ verändern, aufbauen und etablieren, wenn dieses keine Resonanz in der Gesellschaft findet. Eine (neue) Erzählung muss von anderen Akteur:innen aufgegriffen, weiterverwendet und entwickelt werden. Es braucht Diskursallianzen verschiedener Partner:innen. 

Zu jeder Zeit bestehen Erinnerungsleitkulturen, die Deutungsmuster vorgeben. Diese sind kollektive Vorstellungen und grosse sinngebende Erzählungen, die sich im Bewusstsein der Bevölkerung tief verankert haben. Da jedoch auch Erinnerungs-Subkulturen existieren, die in den Vordergrund rücken können, ist entsprechendes Veränderungspotential jederzeit da. Dieses muss aber erkannt und wirkungsvoll genutzt werden.

 

Strategische Narrative

Es ist in diesem Sinne Aufgabe der Politiker:innen sowie von Politikbeobachter:innen und Think Tanks, zu eruieren, welche Narrative zu welchem Welt- und Menschenbild passen. Viele Akteur:innen setzen sich heute für eine inklusivere und offenere Schweiz ein. Dazu gehört auch die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, die Pro Futuris ins Leben gerufen hat. Doch erst wenn wir die Hintergründe der heute dominierenden, gegen aussen abgrenzenden Schweizbildern vertieft verstanden haben, können wir auch über neue Erzählungen für eine (zukünftige) Schweiz, die inklusiver gegen innen und offener gegen aussen ist, nachdenken und diese entwerfen. 

Das Programm «Neue Narrative» ist deshalb einer der drei Hauptpfeiler unseres Think + Do Tanks «Pro Futuris». Wir analysieren konkret dominante Narrative, hinterfragen sie und eruieren, wie neue, glaubwürdige Narrative entstehen und aussehen könnten. Pro Futuris ist überzeugt, dass sich diese wichtige Aufgabe lohnt und aufdrängt. Sie werden in den nächsten Wochen und Monaten wieder von uns hören.


 

Titelbild: Gedenkblatt zur Totalrevision der Bundesverfassung von 1874. Quelle: parlament.ch