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#Pluralismus

Wenn Gegensätze aufeinander treffen

20. September 2022

Wenn Gegensätze aufeinander treffen

Sie erwartet einen konservativen Bauern, er eine entschieden linke Kulturschaffende. Doch das Gespräch, das Petra Miersch und Simon Gloor bei #Lasstunsreden führen, kommt anders als gedacht. Der Blick über den Tellerrand lohnt sich, etwa beim Vaterschaftsurlaub.

Es ist ein sonniger Sonntag, am Springbrunnen bei der Josefswiese in Zürich spielen Kinder. Petra Miersch wird beim Kiosk gleich auf ihren Gesprächspartner von #Lasstunsreden treffen. Sie denkt, sie würde einem SVP-Bauern mit festen konservativen Werten gegenübersitzen. «Diesem Klischee habe ich nicht entsprochen», sagt Simon Gloor und lacht.

Er stehe «schon eher auf der konservativen Seite». Doch Gloor ist weder Bauer, noch definitiv festgesetzt in seiner Meinung. «Wenn jemand gute Argumente bringt, überlege ich mir, ob da was dran ist.» Der 33-Jährige arbeitet im Bereich Projektarbeit und Reporting, bildet sich zum Controller weiter und engagiert sich ehrenamtlich beim Zurich Film Festival.

Eine ungewohnte Perspektive

Simon Gloor ist in Zürich-Wollishofen aufgewachsen und lebt mittlerweile in Adliswil. Er nimmt bei #Lasstunsreden teil, weil er eine immer stärkere Polarisierung feststellt. «Mir ist es ein Anliegen, dass man nicht nur sagt, man sei tolerant, sondern dies auch in der Praxis umsetzt.» Welche Vorstellung hat er von seiner Gesprächspartnerin? «Ich wusste über Petra, dass sie im Kulturbereich arbeitet und dachte, sie sei entschieden progressiv und linksorientiert unterwegs», sagt Gloor. Er habe erwartet, dass sie sich voll im Mindset dieser Bevölkerungsgruppe bewege.

Auch sein Vorurteil fällt in sich zusammen, als er und Petra sich begrüssen. «Petra hat sich differenziert geäussert. Wir konnten auf gemeinsamer Basis und inhaltlich reden.» Es ist ungewohnt für ihn, sich in die Perspektive der integrierten Ausländerin, die zehn Jahre auf die Einbürgerung wartete, zu versetzen.

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Simon Gloor und Petra Miersch im Gespräch. (Foto: Mina Monsef)

Petra Miersch ist Deutsche und vor zwanzig Jahren nach einem EMBA in der Schweiz «hängen geblieben», so drückt sie es aus. Die 52-Jährige ist Geschäftsführerin der Stiftung einer Kantonalbank und lebt mit Mann und Sohn in Aarau. Bei #Lasstunsreden hat sich aus Neugierde angemeldet. «Mich interessiert nicht nur mein Mainstream, sondern ich möchte auch das wahrnehmen, was daneben liegt.»

Lieber spontan oder strukturiert?

Petra Miersch holt Kaffee für beide. Simon Gloor hat die Gesprächsunterlagen und seine Antworten auf die zehn Gesprächsfragen sauber aufgeschrieben mitgebracht. Miersch sagt: «Ich war nicht so vorbereitet und eher spontan unterwegs.» Gloor meint: «Von mir aus hätte es noch strukturierter vorgehen können. Doch es war schön zu sehen, wie wir auf eine natürliche Art interagierten.» Die Zeit geht schnell um.

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Die Zeit vergeht schnell. (Foto: Mina Monsef)

Lange sprechen die beiden darüber, ob die Schweiz einen längeren Vaterschaftsurlaub oder eine Elternzeit einführen sollte – eine der Fragen, die sie bei der Anmeldung unterschiedlich beantwortet haben. Sie sagte ja, er nein. Doch Petra Mierschs Argument löst in ihrem Gesprächspartner etwas aus. Sie sagt: «Wenn ein neues Leben im Haus ist, ist alles erstmal auf den Kopf gestellt. Und da soll der Vater gleich wieder arbeiten, als sei alles normal?» 

Simon Gloor hatte die Frage bisher aus der Arbeitgeber-Perspektive betrachtet: «Wenn die Väter auch noch weg sind, wird es schwierig.» Doch Petra Mierschs Argument und ihren Vergleich mit der Elternzeit in Deutschland haben bei ihm «das Verständnis geschaffen für die andere Perspektive, dass das auch laufen und funktionieren kann.»

«Das habe ich mir so noch nie überlegt»

Petra Miersch sagt: «Mich hat gefreut, dass jemand auch zugeben kann: Das habe ich mir so noch nie überlegt.» Ihr wird bewusst, dass es auch konservative Menschen gibt, die sich stark von ihren Ursprüngen weg in Richtung Mitte bewegt haben. Wie Simon Gloor, der in einer freikirchlichen Familie aufgewachsen ist und sich mittlerweile in der reformierten Kirche engagiert.

Nach anderthalb Stunden Gespräch verabschieden Petra Miersch und Simon Gloor beim Kiosk an der Josefswiese voneinander. Miersch geht mit vielen Gedankenfetzen nach Hause. «Ich ging angeregt und zufrieden aus dem Gespräch. Es war interessant, eine Meinung zu hören, die man nicht teilt, durch die man aber die Ränder mitdenken kann.» Gloor stimmt zu: «Herauszufinden, warum jemand anderes so denkt, ist eine Bereicherung für die Diskussion.»