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#Pluralismus

Wie polarisiert ist die Schweiz? Und wann ist Polarisierung überhaupt ein Problem?

Ivo Scherrer

23. Juli 2024

Besteht die Gefahr, dass sich politische Gewalt auch in der Schweiz die Bahn bricht und die Gesellschaft an politischen Konflikten zerbricht?

Seit dem Anschlagversuch auf Präsidentschaftskandidat Donald #Trump vor zehn Tagen sind wir bei Pro Futuris häufig gefragt worden, wie es um die #Polarisierung der #Schweiz stehe:

Bei Pro Futuris beschäftigen wir uns seit zwei Jahren intensiv mit Zusammenhalt und Polarisierung des Landes und sammeln laufend Evidenzstücke (hier finden sich auch alle Daten, die ich weiter unten zitiere).

Nach einer Woche mit vielen Gesprächen möchte ich mit Blick auf die aktuelle Debatte fünf Beobachtungen und fünf einordnende Überlegungen teilen.

Teil 1 — Was wissen wir über Polarisierung, Vielfalt und Zusammenhalt in der Schweiz?

  1. Die Schweiz ist im europäischen Vergleich politisch relativ stark polarisiert. Die politischen, bzw. ideologischen Positionen der Schweizerischen Parteien liegen im europäischen Vergleich relativ weit auseinander. Und die WählerInnen verorten sich zunehmend an den politischen Polen. Der Anteil der Wählerinnen, die ihre politische Position auf einer Links-Rechts Skala von 0–10 als eine „5“ bezeichnen, ist seit 1995 von rund 30% auf 15% geschrumpft.
  2. Im Unterschied zu den USA wirkt das politische System bei uns eher integrierend und mässigend. Kaum ein anderes politisches System teilt politische Macht so stark zwischen verschiedenen Akteuren, wie das Schweizerische. Bei uns gibt es keine Schicksalswahlen, die entscheiden, wer über Jahre an den Hebeln der Macht sitzt. An fast jedem Abstimmungssonntag sind wir als Stimmbürgerinnen gleichzeitig Gewinner und Verlierer — wir freuen uns über die Resultate der einen Sachabstimmung und ärgern uns über den Ausgang der anderen. Zudem vertritt der Bundesrat fast 80% der WählerInnen. Und dem Parlament kommt eine sehr starke Rolle zu, um mehrheitsfähige Vorlagen auszuarbeiten. Auch in den meisten Kantonen teilen sich Konkordanzregierungen, sprich grosse, bzw. riesige Koalitionen, die politische Macht. Schliesslich schafft die halbdirekte Demokratie vielfältige Beteiligungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft und damit Identifikation mit dem Staat. So vertrauen sich die Menschen in der Schweiz gegenseitig vergleichsweise stark und auch das Vertrauen in die politischen Institutionen ist relativ hoch.
  3. Polarisierung per se ist nicht problematisch. Wir können sie als Ausdruck von politischer Vielfalt betrachten — und die brauchen wir, um in einer sich wandelnden Gesellschaft, laufend neue politische Fragen zu verhandeln. Als Gesellschaft stehen wir vor grossen Herausforderungen, die uns gemeinsam betreffen, und die wir nur gemeinsam anpacken können, bzw. konfliktuell austragen müssen: die Klimakrise, die Entwicklung von AI, demographische und gesellschaftliche Verschiebungen, Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen — und die internationale Verantwortung der Schweiz. In den Dialogformaten von Pro Futuris beobachten wir, dass diejenigen politischen Fragen besonders emotionalisieren, welche die persönliche Lebensgestaltung betreffen — etwa wie wir essen, wie wir sprechen, wie wir unsere Beziehungen pflegen, wie wir mobil sind etc. Parallel zur Politisierung des Alltags verlieren auch politische Institutionen und die Medien durch die Digitalisierung an Einfluss. Wir erleben damit nicht nur eine Polarisierung, sondern auch eine Vervielfältigung politischer Akteure und Diskurse.
  4. Neben der politischen Polarisierung werden unsere Gesellschaften pluraler. In keinem anderen westlichen Land (ausser Luxembourg) leben so viele Menschen, die ausserhalb des Landes geboren sind wie in der Schweiz. Gleichzeitig haben in den letzten Jahrzehnten traditionell-dominante, besonders religiöse Gruppenidentitäten an Kraft verloren und historisch diskriminierte Gruppen erkämpfen sich Schritt für Schritt mehr Anerkennung und Gleichheit. Wir sind somit als Einzelne, wie auch als Gesellschaft, damit konfrontiert, unsere Identitäten selbst zu definieren — und dies fortlaufend. Früher selsbtverständliche Identitäten und Zugehörigkeiten verlieren an Dominanz. Die Pluralisierung der Gesellschaft wirkt somit gleichzeitig befreiend wie auch desorientierend. Lektüretipp: Isolde Charim — Ich und die Anderen
  5. In der Schweiz beobachten wir sowohl Konflikteskalationen und eine relativ starke affektive Polarisierung als auch den Wunsch nach mehr Empathie. In einer Umfrage im Oktober 2021 haben mehr als 30% der Erwachsenen angegeben, Beziehungen zu Menschen aus dem engsten Kreis wegen unterschiedlichen Ansichten rund um Corona-Massnahmen abgebrochen zu haben. Eine Beziehung abzubrechen, ist ein hoher Preis, um einen Ausweg aus Meinungsverschiedenheiten zu finden. Drei Viertel der BewohnerInnen der Schweiz sagen gleichzeitig, die Empathie habe abgenommen. Und mehr als 80% wünschen sich mehr Toleranz für andere Meinungen. Parallel dazu ist die Schweiz relativ stark affektiv, d.h. emotional polarisiert (wenn auch auf stabilem Niveau). Affektive Polarisierung misst den Unterschied zwischen der Sympathie, der wir der eigenen Gruppe entgegenbringen und der Antipathie, die wir gegenüber „anderen“ hegen.
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Teil 2 — Wann wird Polarisierung problematisch? Und was können wir dagegen tun?

  1. Auch in der Schweiz gefährden Vorurteile gegenüber Andersdenkenden, Minderheiten und PolitkerInnen die Demokratie und den Zusammenhalt, bergen Gewaltpotential und verursachen viel Leid für die Betroffenen: So sagen 40% der Schweizerinnen ohne Migrationshintergrund, sie würden sich an „Andersartigkeit“ in Form von anderer Nationalität, Glaube, Hautfarbe und Sprache stören. Und viele machen „andere“ für gesellschaftliche Missstände verantwortlich. Negative Stereotypen gegenüber schwarz, muslimisch und jüdisch gelesenen Personen sind stark verbreitet. Registrierte verbale und physische Attacken gegenüber LGBTQ, JüdInnen und Musliminnen haben ebenfalls zugenommen. Zudem werden viele Politiker:innen verbal und teils auch physisch bedroht, besonders junge Frauen. Mit Blick auf potentielle politische Gewalt beobachtet der Nachrichtendienst inbesondere linksextremistische, rechtsextremistische und dschihadistische Gruppen.
  2. Verschwörungserzählungen, die behaupten, dass die Welt von sinistren, geheimen Kräften kontrolliert würden, finden auch in der Schweiz Anklang — besonders bei jungen Männern — und sind möglicher Nährboden für Extremismus. Verschwörungserzählungen machen oft vermeintliche Eliten und/oder Minderheiten für kollektive Probleme verantwortlich und können der Legitimierung von Gewalt dienen („wir müssen uns gegen die finsteren Machteliten zur Wehr setzen“). Verschwörungserzählungen führen auch dazu, dass sich Menschen gegenseitig misstrauen und sich gegenseitig niedere Motive unterstellen. Sie verhindern somit, dass wir einen öffentlichen Diskurs führen können, in dem wir gemeinsam schlauer werden.
  3. Die entscheidende Frage ist, wie wir mit unseren unterschiedlichen Ansichten, Vorlieben und Lebensrealitäten umgehen. Ob mit Offenheit, Respekt, Neugierde, Vorschussvertrauen, Toleranz und Verständnis für unsere Unterschiede, wie es sich vier Fünftel der Bevölkerung wünschen — oder mit Ablehnung, Stereotypisierung, Scapegoating oder sogar Hass und Gewalt, von denjenigen, die wir als anders betrachten. Polarisierung und Pluralisierung können wir als auch als eine gesellschaftliche Beziehungsfrage betrachten — unser Umgang miteinander ist zentral, wie auch in jeder anderen Beziehung.
  4. Um uns mit Offenheit und Respekt zu begegnen, ist es notwendig, andere Menschen jenseits einzelner Identitätsmerkmale zu sehen und unsere eigenen Gruppenidentitäten kritisch zu hinterfragen. Emotionen helfen uns dabei, die Welt zu navigieren und zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Wenn wir uns aber emotional (zu) stark mit gewissen politischen Gruppen identifizieren, Politik quasi als Teamsport betreiben, kann das dazu führen, dass wir die eigene Gruppe überhöhen (und Mitgliedern des eigenen Teams unkritisch begegnen) und gleichzeitig die (vermeintlichen) Mitglieder der anderen Gruppen abwerten. Emotionale Selbstüberhöhung in Kombination mit der Abwertung anderer kann wiederum dazu führen, dass wir den Kontakt mit anderen meiden, ihnen mit Missgunst begegnen, und weniger bereit dazusind, Kompromisse mit ihnen einzugehen. Denn politische Kompromisse bedingen, dass wir auch andersdenkenden Menschen einen gewissen politischen Erfolg zugestehen. Als demokratische BürgerInnen sollten wir besonders darauf achten, dass wir unsere Ängste nicht als Anlass dazu nehmen, andere Menschen oder Gruppen zu Feindbildern zu stilisieren (Lektüretipp: Eva Illouz — Undemokratische Emotionen)
  5. Für die Zukunft ist unserer Ansicht nach entscheidend, dass wir einen ehrlichen und konstruktiven Umgang mit unseren Unterschieden finden — und dabei nicht vergessen, den Blick auch auf das Gemeinsame zu legen. Dazu gehört es, als erstes zu akzeptieren, dass Menschen mit anderen Meinungen und Lebensentwürfen genauso Teil des öffentlichen Diskurses und des demokratischen Prozesses sein dürfen wie wir (unter Beachtung fundamentaler demokratischer Grundsätze). Dazu gehört, dass wir auch mit Menschen aus dem entgegengesetzten politischen Spektrum, in Kontakt treten, und uns vor Augen halten, dass eine Person viel mehr ist, als ihre vermeintliche Gruppenzugehörigkeit. Dass jede andere Person genauso vielfältig und widersprüchlich ist, wie wir es sind. Im Umgang mit anderen können wir gleichzeitig unsere Unterschiede auf den Tisch legen und den Blick auf’s Gemeinsame und Verbindende richten — seien das auch eher triviale Dinge wie Hobbys, die wir pflegen; soziale Rollen, die wir einnehmen oder Erlebnisse, die wir gemacht haben. Wenn wir mit offenem Ohr zuhören, finden wir mit fast jeder Person Gemeinsamkeiten. Dass dies auch in sehr schwierigen Situationen funktionieren kann, zeigt u.A. „GmeinsamEinsam“ — eine Gruppe von jüdisch-muslimischen-palästinensch-israelischen Menschen, die einen (in-)direkten Bezug zu Israel/Palästina haben, der ich selbst auch angehöre. Die Gruppe trifft sich seit November regelmässig, um gemeinsam zu trauern und sich gegenseitig zuzuhören. Wir spenden uns Trost und geben den jeweiligen Perspektiven, Narrativen und Emotionen der anderen Raum und nehmen uns als Menschen wahr, die mehr sind als ihre Gruppenmerkmale.
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