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#Pluralism

Wie eine Demokratie streiten kann, ohne zu zerfallen

Ivo Scherrer

25. May 2022

Series: Wie gespalten ist die Schweiz?

Part 2

Um unsere Zukunft gemeinsam zu gestalten, müssen wir respektvoll miteinander streiten können. Und gemeinsam schlauer werden, als wir es als Einzelne sind. Die grösste Gefahr? Verschwörungserzählungen, die gegen jegliche Kritik immun sind.

Als demokratische Gesellschaft sind wir gefordert, unser Gemeinwesen selbst zu gestalten: Wir müssen gemeinsam entscheiden, wie wir der Klimakrise entgegnen, mit künstlicher Intelligenz umgehen oder die Altersvorsorge organisieren. Um gemeinsam politische Entscheidungen fällen zu können, brauchen wir Spielregeln, die uns erlauben, dass wir uns trotz unserer Unterschiede darüber verständigen können, wie die Welt funktioniert und welche Herausforderungen unsere Aufmerksamkeit verdienen.

Für eine vielfältige Gesellschaft, die sich aus zahlreichen kulturellen, politischen und sozio-ökonomischen Gruppen zusammensetzt, ist es alles andere als trivial, eine gemeinsame Sprache zu finden. Denn jede Gruppe, wie auch jeder einzelne Mensch, blickt mit unterschiedlichen Erfahrungen und Werten auf die Geschehnisse der Welt: Uns allen sind nicht nur unterschiedliche Dinge wichtig, uns fallen unterschiedliche Geschehnisse auf und wir deuten dieselben Fakten auf verschiedene Weisen. 

Vielfältige Demokratien sind fragile Experimente

In seinem Buch «Das grosse Experiment» legt der deutsch-amerikanischen Politologe Yascha Mounk dar, dass vielfältige Demokratien fragile Gebilde sind. Denn alle Demokratien laufen früher oder später Gefahr, den zentrifugalen Kräften rivalisierender Gruppen zum Opfer zu fallen. Am Beispiel der Vereinigten Staaten zeigt Mounk, was passiert, wenn die Fragmentierung von Öffentlichkeit und Diskurs laufend zunimmt. Demokrat:innen und Republikaner:innen haben nicht nur unterschiedliche Werte. Sie schauen mit fundamental unterschiedlichen Brillen auf gesellschaftliche Entwicklungen, benutzen verschiedene Begriffe und führen parallele Diskurse. Befeuert von den Algorithmen sozialer Medien geben auf beiden Seiten die Extremen und die Schreihälse den Ton an. Die Moderaten werden kaum noch gehört.

Der amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt beschreibt, wie diese Fragmentierung in allen gesellschaftlichen Institutionen weiter wuchert: in Medien, Wissenschaft und Behörden (Atlantic, 2022). Um den inneren Zerfall der USA zu beschreiben, zieht Haidt die Parabel des Turmbaus zu Babel herbei, in der die Menschen in Zwist zerfallen, nachdem Gott ihre Sprache verwirrt. In der Folge sind sie nicht mehr in der Lage, den Turm weiterzubauen. In Haidts Übertragung auf die heutigen USA heisst das: Deuten verschiedene Gruppen die Welt so unterschiedlich, dass sie sich nicht mehr verständigen können, kann sich eine Demokratie nicht mehr weiterentwickeln. Es droht ihr Zerfall. 

Wir müssen lernen, konstruktiv zu streiten

Eine vielfältige Gesellschaft braucht keinen Einheitsdiskurs, der vorschreibt, worüber alle zu sprechen haben. Sie braucht keine Einigkeit. Sie braucht aber gewisse Spielregeln, die erlauben, dass sich eine Vielzahl von Stimmen, die sich nicht einig sind, einbringen können. Und zwar auf eine Art und Weise, die dazu führt, dass wir gemeinsam schlauer werden, als wir es als Einzelne sind. Wir brauchen eine Form des Diskurses, die uns hilft im respektvollen Streitgespräch mehr übereinander und über uns selbst zu lernen und so gemeinsam bessere Lösungen zu finden.

Der britische Autor Ian Leslie nennt diese Form des Streitens, die nicht nur darauf aus ist, Recht zu haben, «constructive Disagreement». Er sagt: «Die besten Arten von Auseinandersetzungen verstärken Meinungsverschiedenheiten nicht. Sie merzen Meinungsverschiedenheiten auch nicht aus, sondern schaffen etwas Neues.»*

Es braucht klares Denken und emotionale Intelligenz

Damit wir in der Auseinandersetzung Neues lernen können, müssen wir erstmal unseren Verstand schärfen und eine Reihe an Denkfallen überwinden, die sich in Form sogenannter kognitiver «Biases» präsentieren. Zu diesen Denkfallen gehören etwa der Group Think-Bias oder der In-Group-Bias, die uns dazu verleiten, im Zweifel eher jemandem Glauben zu schenken, den oder die wir unserer Gruppe zuordnen, als einem:r Outsider:in – auch wenn Letztere:r die besseren Argumente ins Feld führt.

In ihrem Buch «The Scout Mindset» rät uns die amerikanische Journalistin Julia Galef, diese «Biases» in die Zange zu nehmen und unsere Denkweisen aktiv zu hinterfragen:

  • Würde ich das Argument von Person X auch unterstützen, wenn sie Teil einer anderen Gruppe wäre oder beurteile ich bestimmte Personen nach unterschiedlichem Mass – je nachdem zu welcher Gruppen sie gehören?
  • Wenn andere Menschen, die uns wichtig sind, eine bestimmte Meinung ablegen würden, würden wir sie dann weiterhin tragen? 

Je selbstkritischer wir mit unseren vermeintlichen Gewissheiten umgehen, umso höher die Chance, dass wir die Welt jenseits unserer  Gruppenzugehörigkeiten erfassen können.

Um in der Auseinandersetzung mit anderen offen zu bleiben, ist neben klarem Denken auch emotionale Intelligenz gefragt: Die türkisch-britische Autorin Elif Shafak (2021) warnt davor, dass unsere Identifikation mit gewissen politischen Gruppen uns davon abhalten können, die Welt mit klaren Augen zu sehen. Im Gegenzug drohen unsere gefühlten Gruppenzugehörigkeiten uns dazu zu verführen, jeden Diskurs als Zweikampf zu sehen.

Shafak warnt uns vor der Gefahr, im Diskurs emotional auseinanderzudriften: «Je weniger Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen miteinander kommunizieren und sich ineinander hinein versetzen können, umso geringer schätzen wir unser gemeinsames Mensch-Sein.»** Stattdessen rät sie uns, besonders in heftigen Debatten, unsere Identitäten und die damit verbundenen Emotionen zu hinterfragen: «Habe ich eine einzige Identität – basierend auf Nationalität, Ethnizität, Religion, Klasse, Geschlecht oder Geografie? Oder bin ich im Wesentlichen eine Mischung aus multiplen Zugehörigkeiten, kulturellen Loyalitäten, verschiedenen Erbschaften, Hintergründen und Entwicklungen?»***

Wir müssen Verschwörungsglauben im Zaum halten

So sehr vielfältige Demokratien nur mit einer offenen Streitkultur atmen können, so rasch können sie Schaden nehmen, wenn sich grosse Teile der Bevölkerung geschlossene Weltbilder aneignen. Besonders gefährlich: der Glaube an Verschwörungserzählungen, die gegen jede Form der Kritik immun sind und sich allen Vorsätzen des klaren Denkens und des konstruktiven Streitens widersetzen.

Karl Popper hat schon 1945 dargelegt, was Verschwörungserzählungen im Kern ausmacht: Sie sind die «falsche Theorie, dass, was immer sich in einer Gesellschaft ereignet, das Ergebnis eines Planes mächtiger Individuen oder Gruppen ist». Er betrachtete den Verschwörungsglauben damit als ein Fortführung ehemals religiösen Aberglaubens: «Die Götter sind abgeschafft. Aber an ihre Stelle nehmen mächtige Männer oder Verbände ein – unheilvolle Machtgruppen, deren böse Absichten für alle Übel verantwortlich sind…». Verschwörungserzählungen sind also stark vereinfachende Erklärungsmuster. «Gewöhnlich bedient sich die Verschwörungstheorie zufälliger Koinzidenzen, die mit Bedeutung aufgeladen werden, und kombiniert Fakten, die nichts miteinander zu tun haben», ergänzte etwa Umberto Eco.

Verschwörungserzählungen tauchen immer wieder auf; als Antworten auf Krisen, als Ausdruck von Ohnmacht und Überforderung im Umgang mit einer komplexen Welt. Und nicht selten sind sie implizit oder explizit antisemitisch aufgebaut und portieren Talmudisten, Rothschilds und Zionisten und ihre Verbündeten, etwa die Freimaurer oder die Bill Gates Stiftung, als angeblichliche Strippenzieher (vgl. etwa die fantastische Reihe zu Verschwörungsglauben der Republik von 2021). 

Verschwörungserzählungen immunisieren sich gegen kritische Auseinandersetzungen, indem sie Kritik als Beweis für die eigene Weltsicht interpretieren (siehe dazu das Conspiracy Theory Handbook von Lewandowsky und Cook): Fehlt Evidenz für die Verschwörung? «Kein Wunder. Die Strippenzieher:innen verwischen ihre Spuren.» Spricht Evidenz direkt gegen eine Verschwörung? «Kann nicht sein. Die Fakten sind manipuliert.» Eine konstruktive Unterhaltung zu führen, wird so sehr schwierig.

Die Pandemie hat neue Verschwörungserzählungen geschaffen

Gemäss einer Untersuchung von Baier und Manzoni (2020) glaubt mehr als ein Drittel der Schweizer Bevölkerung, dass geheime Organisationen grossen Einfluss auf wichtige Entscheidungen hätten und Politiker:innen lediglich deren willfährige Marionetten seien. Baier und Manzoni kommen zum Schluss, dass rund 35 Prozent der von ihnen befragten Erwachsenen «eine ausgeprägte Verschwörungsmentalität» aufweisen.

Besonders klar zeigt sich die Kraft von Verschwörungserzählungen rund um Covid: Eine Umfrage von Kuhn et al. vom Sommer 2020 hat hervorgebracht, dass damals zwischen 35 und 45 Prozent der Bevölkerung zumindest teilweise glaubte, dass das Virus geschaffen worden sei, um die Bevölkerung zu reduzieren oder um Regierungen und Firmen mehr Macht zu verschaffen. Eine weitere Studie von Nachtwey et al. (2021) hat hervorgebracht, dass eine grosse Mehrheit der Massnahmengegner:innen in Deutschland, der Schweiz und Österreich der Ansicht war, dass Medien und Politik unter einer Decke steckten und dass die Bill und Melinda Gates Stiftung die Zwangsimpfung der gesamten Welt anstrebe. Im internationalen Vergleich weist die Schweiz ein mittleres Niveau an Verschwörungsglauben auf (vgl. de Coninck et al., 2021)

Es ist wichtig, hervorzuheben, dass sich der Glaube an Verschwörungsmythen fundamental von massnahmenkritischen Haltungen unterscheidet. Letztere stellen die Verhältnismässigkeit der behördlichen Massnahmen in Frage, nicht aber grundlegende Fakten über Ursache und Wirkung des Virus.

Wie viel Verschwörungsglaube eine offene, plurale Demokratie erträgt, lässt sich nicht beziffern. Doch klar ist, dass es umso schwieriger wird, als Gesellschaft in einen konstruktiven Dialog zu treten, je mehr Menschen solchen Mythen anhängen. Ebenso fatal ist, wenn Menschen dem politischen Geschehen den Rücken zuzukehren, weil sie ihre eigene Handlungsmacht unterschätzen, da sie glauben, dass obskure Kräfte die Welt kontrollierten.

Die Welt zu deuten, ist eine kollektive Aufgabe

Die Kraft von Verschwörungserzählungen legt ein fundamentales Bedürfnis von uns Menschen offen: Wir sind auf Hilfe angewiesen, um aus der Welt schlau zu werden. Wir können uns nicht alleine zurecht finden. Wir brauchen Institutionen, die uns helfen, die Welt zu verstehen, dabei unsere Denkfallen zu umtanzen und unsere gruppen-bezogenen Emotionen im Zaum zu halten. In modernen Gesellschaften nehmen Wissenschaft, Medien und Politik die wichtigsten Rollen ein, um die Welt zu deuten, darüber zu streiten, was wichtig ist, und gemeinsame Kompromisse zu finden. In der demokratischen Öffentlichkeit sind Medien die zentralen Vermittlerinnen: sie recherchieren, erschliessen, kuratieren, vermitteln und verbreiten Wissen (vgl. Neuberger, 2020).

Doch gerade um die Kraft der Medien steht es schlecht. Wie auch in vielen anderen westlichen Demokratien haben Vielfalt und Qualität der Schweizer Medien in den letzten 20 Jahren massiv abgenommen. Zahlreiche Zeitungen mussten die Türen schliessen. Die Recherchen der Republik (2021 & 2022) zeigen, wie viele Redaktionen, besonders auf lokaler und regionaler Ebene, jedes Jahr zusammengelegt werden, und dass seit 2017 praktisch jede Woche ein:e Journalist:in die Branche verlässt. Gleichzeitig hat die Anzahl an Artikeln in physischen Zeitungen zwischen 2011 und 2021 um 30 bis 60 Prozent abgenommen, wie Saldo (2022) recherchiert.

Im Online-Zeitalter gelten für Medienschaffende auch neue Anreize. Je länger ein:e Leser:in auf einer Seite verweilt und je öfter gewisse Links angeklickt werden, desto höher sind die Werbeeinnahmen der Verlagshäuser. Seit 2021 ist etwa die durchschnittliche Verweildauer der Leser:innen ein Leistungskriterium für Redakteure der TX-Group, wie die Republik berichtet. Somit werden Redakteur:innen dafür belohnt, Texte zu schreiben, welche die Leser:innen möglichst emotional ansprechen.

Die meisten Institutionen geniessen weiterhin hohes Vertrauen

Trotz qualitativem Abbau und erhöhter Konzentration vertrauen die Schweizer:innen den etablierten Schweizer Medien vergleichsweise stark. Die Mehrheit der Bürger:innen vermuten eher, in sozialen Medien Falschinformationen aufgetischt zu erhalten. Jedoch misstrauen gemäss einer Studie der Universität Zürich (2021)  besonders viele jüngere Menschen den etablierten Medien. 

Auch das Vertrauen in andere Institutionen bleibt hoch: So hat trotz breiter Kritik am Pandemiemanagement von Bund und Kantonen das Vertrauen in das politische System in der Schweiz zwischen 2019 und 2021 zugenommen, wie die Zahlen des Bundesamts für Statistik (2022) zeigen, und ist im internationalen Vergleich der OECD (2022) weiterhin ungeschlagen hoch. Auch das Vertrauen in die Wissenschaft scheint unter der Pandemie nicht gelitten, sondern zwischen 2016 und Ende 2020 sogar zugenommen zu haben (von 3,6 auf 3,8 von 5 Punkten, vgl. Wissenschaftsbarometer, 2020). 

Wir müssen in Institutionen und Diskurs investieren

Wir werden das Vertrauen in zentrale demokratische Institutionen nur erhalten können, wenn wir in sie investieren. Denn die Institutionen sind nur so stark wie die Menschen, die ihnen tagtäglich Leben einhauchen. 

Wollen wir den öffentlichen Diskurs beleben, müssen wir es es zudem wagen, in neue Formen von Dialog und Teilhabe zu investieren. Und die breite Bevölkerung dafür zu begeistern, auch Andersdenkenden mit kritischer Neugier zu begegnen. 

Die Investition in eine informierte und respektvolle Debatte ist eine Investition in unsere kollektive Intelligenz und kann helfen, Verschwörungstendenzen vorzubeugen. Denn bei Verschwörungslauben zeigt sich: Prävention ist das effektivste Gegenmittel (vgl. etwa Jolley und Douglas, 2017). Je früher und öfter wir üben, konstruktiv und respektvoll miteinander zu streiten, und dabei Unterschiede und Ungewissheiten auszuhalten, umso resilienter wird unsere Demokratie und umso schlauer werden wir gemeinsam.

 


 

Eigens ins Deutsche übersetzte Originalzitate:

*«The best disagreements neither reinforce nor eradicate a difference, but make something new.» Ian Leslie

**«The less that people from different backgrounds can communicate and empathise with each other, the smaller our appreciation for our shared humanity.» Elif Shafak

*** «Do I have a single identity – based on nationality, ethnicity, religion, class, gender or geography? Or am I essentially a mixture of multiple belongings, cultural allegiances and diverse inheritances, backgrounds and trajectories?»  Elif Shafak

 


 

Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Serie. Der erste Teil analysierte Polarisierung der Gefühle und Ideen in der Schweiz.