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Generation Fatalismus? Wie der Zukunftsrat U24 Perspektiven schafft
Serie: Neue Formen der Demokratie entwickeln
Teil 1
Die junge Generation muss am längsten mit den politischen Entscheidungen leben, die wir heute treffen. Ausgerechnet sie schaut zunehmend pessimistisch in die Zukunft und ist in der Politik klar unterrepräsentiert. Sind Bürger:innenräte eine Antwort auf diese Entwicklung?
Der Zukunftsglauben der Schweizer Bevölkerung schwindet. Immer mehr Menschen blicken pessimistisch auf die kommenden Jahrzehnte. Laut der repräsentativen Umfrage des Generationenbarometers 2023 des Berner Generationenhauses geben 66% der Befragten an, pessimistisch oder eher pessimistisch auf das Jahr 2052 zu blicken. Junge Menschen im Alter von 18 bis 26 Jahren sehen die Zukunft besonders düster: 81% der Befragten teilen die pessimistische Sicht.
Das Jugendbarometer der Credit Suisse 2022 sowie der easyvote Politikmonitor 2022 vom Dachverband Schweizer Jugendparlamente DSJ bestätigen den Trend. Dieser lässt sich nicht nur in der Schweiz beobachten. Umfragen in weiteren europäischen Ländern bestätigen den getrübten Blick der Jugend auf die Zukunft (TUI Jugendstudie 2022). Fast überall gab ein grosser Teil der befragten Jugendlichen an, hoffnungslos in die Zukunft zu blicken. Dies sowohl aus einer persönlichen als auch aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive.
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einerseits haben einschneidende globale Ereignisse wie die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine die junge Generation besonders nachhaltig verunsichert. Eine strukturelle Erklärung bietet der Politikmonitor 2022. Laut der Umfrage bekommen Jugendliche vermehrt das Gefühl, dass ihre Fokus-Themen kaum Gehör in der etablierten Politik finden.
Die Emotionsstudie der Helsana 2022 zeigt zudem auf, dass sich junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren aus allen Altersgruppen am meisten erschöpft fühlen. Deshalb wird diese Altersgruppe in diesem Kontext auch als «erschöpfte Generation» bezeichnet.
Die aufgeführten Befunde sind alarmierend, da eine energie-und hoffnungslose Generation herangewachsen scheint, die sich von unserer Politik zu verabschieden droht. Lässt sich diese Entwicklung auch in der demokratischen Partizipation bestätigen?
Die politische Teilhabe von jungen Menschen ist schwach
Gemäss den Zahlen des Bundesamts für Statistik beteiligen sich knapp 30% der gesamten Wohnbevölkerung der Schweiz an politischen Entscheiden in Form von Abstimmungen und Wahlen. Dieser Wert verschlechtert sich mit Blick auf die Beteiligung von jungen Menschen an politischen Entscheidungen. 37% der jungen Wohnbevölkerung im Alter von 16 bis und mit 24 Jahren hat gar kein Stimmrecht, weil noch keine Volljährigkeit erreicht ist oder weil kein Schweizer Pass vorliegt. Die Wahlbeteiligung der unter 25-jährigen Schweizer Bürger:innen liegt mit 33% unter der allgemeinen Wahlbeteiligung von 45% und noch deutlicher unter der Wahlbeteiligung der 65- bis 72-Jährigen mit 62%. In den letzten 25 Jahren nahmen jeweils nur etwa ein Drittel der 18- bis 25-Jährigen an Wahlen oder Abstimmungen teil. Rechnen wir die Werte zusammen, kommen wir auf rund 23% der 16 bis und mit 24-Jährigen, welche die politische Zukunft in der Schweizer Demokratie via Wahlen oder Abstimmungen mitbestimmen können.
Ähnlich sieht es mit der Repräsentanz von jungen Menschen im Parlament aus: Mit einem Altersdurchschnitt von 49 Jahren im Nationalrat und nur fünf Parlamentarier:innen unter 40 Jahren sind junge Menschen auch in der Legislative klar unterrepräsentiert (Durafour 2020).
Ist das eine unpolitische Generation?
Angesichts der niedrigen Beteiligungszahlen ist es nicht erstaunlich, dass sich die junge Bevölkerung politisch wenig repräsentiert fühlt. Bisherige Bestrebungen, mittels politischer Bildung junge Menschen zu mehr demokratischer Beteiligung zu bewegen, sprechen nur einen Teil der Zielgruppen an (Patrik Zamora et al. 2020). Es braucht deshalb neue politische Formate, in denen mitentschieden werden kann und in denen junge Personen ernst genommen werden. Diese sollen die politische Teilhabe erlebbar und wirksam gestalten, den Dialog zwischen Menschen aus unterschiedlichen Milieus fördern und das Vertrauen in demokratische Prozesse und öffentliche Entscheide stärken.
Denn Jugendliche sind grundsätzlich politisch interessiert. Drei von vier Jugendlichen können sich vorstellen, sich in Zukunft stärker politisch zu engagieren (EKKJ 2022). Die Studie der Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen EKKJ zeigt ausserdem, dass Jugendliche und junge Erwachsene vor allem dann partizipieren, wenn sie sich «gehört, gesehen und ernst genommen fühlen.» (EKKJ 2022). So wünschen sie sich vermehrt einen besseren Zugang zu politischer Bildung und politischen Partizipationsmöglichkeiten, unabhängig von Alter, Bildung und Geschlecht (EKKJ 2022). Dabei ist wichtig, dass die Partizipationsmöglichkeiten echte Wirkung entfalten und die Themen nahe an der Lebenswelt der Jugendlichen sind.
Bürger:innenräten beleben die demokratische Entscheidungsfindung
Bürger:innenräte sind Gefässe, welche die Teilhabe und das Vertrauen in politische Entscheidungsprozesse stärken und den Austausch über sozio-ökonomische Grenzen hinweg fördern. Bürger:innenräte ermöglichen den teilnehmenden Menschen, sich fundiert mit einem Thema auseinanderzusetzen, einen Umgang mit Komplexität und Ambivalenzen zu finden und ausgewogene und konstruktive Empfehlungen zu erarbeiten. Als Teil der deliberativen (lat. von deliberatio: ‚Beratschlagung, Überlegung‘) Demokratie stehen bei Bürger:innenräte der Austausch von Argumenten, ein gute Repräsentation durch die zufällige Auswahl der Mitglieder durch das Losverfahren, der Einbezug von persönlichen Lebenserfahrungen und eine gute Informiertheit in einem respektvollen Umgang von anderen Sichtweisen im Vordergrund. Ziel ist dabei, durch den “zwanglosen Zwang des besseren Arguments” (Jürgen Habermas) zu gut „informierten und einvernehmlichen Ansichten” (James S. Fishkin) zu gelangen (Bertelsmann Stiftung, Deliberative Demokratie: Mehr als nur wählen, September 2020).
Bürger:innenräte wurden bereits in unterschiedlichsten Länder und Kontexten als möglichst repräsentatives Abbild der Bevölkerung oder sogenannte «Mini Publics» einberufen, um über komplexe Zukunftsfragen zu debattieren und Politiker:innen, der Verwaltung und auch der stimmberechtigten Bevölkerung Lösungsvorschläge zu präsentieren. Auf Grundlage von zahlreichen Durchführungen hat die OECD einen Leitfaden entwickelt. Dieser zeigt, wie den teilnehmenden Menschen ermöglicht werden kann, sich fundiert mit einem Thema auseinanderzusetzen, einen Umgang mit Komplexität und Ambivalenzen zu finden und ausgewogene und konstruktive Empfehlungen zu erarbeiten (OECD Public Governance Policy Papers, No. 12, 14 December 2021). Mit dem Zukunftsrat U24 lanciert Pro Futuris erstmals in der Schweiz einen Bürger:innenrat für eine bestimmte Alterskohorte.
Der Zukunftsrat U24 gibt der jungen Schweiz eine stärkere Stimme
Jugendliche im Alter von 16 bis 24 sind in besonderem Masse von politischen Entscheiden betroffen, da sie die Zukunft der Schweiz repräsentieren – gleichzeitig ist diese Bevölkerungsgruppe in der Politik unterrepräsentiert. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) und die Schweizerische UNESCO-Kommission (SUK) möchten hier Ausgleich schaffen und rufen gemeinsam mit zahlreichen Partnerorganisationen den ersten annähernd repräsentativen, per Losverfahren zusammengestellten Rat für Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 24 Jahren ins Leben. Unter dem Namen «Zukunftsrat U24» verschafft der Bürger:innenrat jungen Menschen in der Schweiz eine neue politische Stimme. Beim Zukunftsrat U24 bestimmen Jugendliche und junge Erwachsene selbst, mit welchem Thema sie sich auseinandersetzen und welche ihre Lösungsansätze sind.
Die rund 80 Teilnehmenden des Zukunftsrates werden anhand eines mehrstufigen Los-Verfahrens zufällig ausgelost und sind somit ein annähernd repräsentatives Abbild dieser Altersgruppe. Dieses Auswahlverfahren ist das Herzstück des Zukunftsrates und ein klares Unterscheidungsmerkmal zu bestehenden Kinder- und Jugendparlamenten, bei denen die Zusammensetzung durch eine Vielfalt an nicht-steuerbaren Faktoren bestimmt wird, wie die Eigenmotivation, der Ausbildungsgrad oder andere Privilegien.
Mit Pro Futuris schauen wir nach der Testphase von «Lasst uns reden» gespannt auf das zweite strategische Experiment des neuen Think+Do Tanks, der vor einem Jahr gegründet wurde. Wir hoffen mit der Durchführung dieses neuartigen Formats Erkenntnisse zu folgenden Fragen zu erhalten:
- Wie verändern sich die Einstellungen und das Verhalten der Zukunftsrats-Teilnehmenden in Bezug auf ihr Vertrauen in demokratische Prozesse, die politische Partizipation und die Einstellung gegenüber Andersdenkenden?
- Nehmen politische und zivilgesellschaftliche Akteur:innen Forderungen des Rats in ihrer Arbeit auf?
- Schaffen wir es, eine Debatte über die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Demokratie zu lancieren?
- Unter welchen Bedingungen ist ein deliberativer Zukunftsrat eine sinnvolle Ergänzung zum Demokratiesystem der Schweiz?
In Teil II der Beitrags-Serie möchten wir unsere Analyse der fehlenden Teilhabemöglichkeiten in der Schweiz vertiefen und die Deliberation und das Losverfahren als Möglichkeiten der Inklusionsförderung diskutieren.